Polen spielte auch für das geschlagene Deutschland eine zentrale Rolle in seiner Außenpolitik, waren doch die durch den Versailler Vertrag abgetretenen Gebiete in großer Mehrheit polnisches Staatsgebiet geworden. (2) Die Revision des Friedensvertrages – in welcher Form und mit welchen Mitteln auch immer – war ein zentrales Ziel jeder deutschen Regierung, wurden von allen Parteien, selbst der kommunistischen, unterstützt und von dem größten Teil der Bevölkerung geteilt. Aufgrund dieser Konstellation stand eine antipolnische, wie im Kaiserreich ’negative Polenpolitik‘ außer Frage. Den baltischen Staaten kam dabei, wie Analysen des Auswärtigen Amtes bereits aus den Jahren 1919/1920 belegen, eine besondere Rolle zu. Sie sollten zum einen eine ‚Brücke‘ zu der aus Ostmitteleuropa durch den französischen ‚cordon sanitaire‘ abgedrängten Sowjetunion herstellen, wobei die ideologischen Gegensätze eine untergeordnete Rolle spielten (im Vordergrund stand der massive polnisch-sowjetische Gegensatz); zum anderen war darauf zu achten, daß das Baltikum nicht in den Einflußbereich der polnisch-französischen Bündnispolitik geriet, und zum dritten und eng mit dem zweiten Punkt verbunden versprach man sich auf wirtschaftlichem Gebiet Vorteile von einer starken ökonomischen Stellung im Baltikum, vor allem in Hinblick auf spätere Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion und zur Konterkarierung polnischer politischer Bestrebungen. Das dargelegte Konzept gab die Richtung der deutschen Politik vor: Man hielt die Unabhängigkeit der baltischen Staaten für ein wichtiges und positives Ergebnis der Nachkriegsordnung, erkannte ihre Souveränität an und versuchte freundschaftliche Beziehungen aufzubauen. Vor allem Litauen wurde wegen der Wilnafrage und der fehlenden deutsch-baltischen Minderheit, deren Kooperation mit der ehemaligen deutschen Besatzungsmacht den Neuaufbau von Beziehungen mit Lettland und Estland erschwerte, als „Aktivposten in der Zukunft“ (3) angesehen.

Allerdings zeichnete sich bald ein neuer Konfliktherd ab: Das Memelgebiet, durch Art. 99 des Versailler Vertrags vom Deutschen Reich abgetreten, stand seit Januar/Februar 1920 unter alliiertem Kondominium. Während in der Stadt selbst eine klare deutschsprachige Mehrheit wohnte, war das Verhältnis auf dem Lande gerade umgekehrt. Gemeinhin geht man davon aus, daß sich die Zahl der Kleinlitauer und Deutschen in der Gesamtregion in etwa die Waage hielt. Entgegen der ursprünglichen Erwartung in Memel und Berlin, zogen nicht die Briten, sondern die Franzosen als Vertreter der Ententemächte in die Stadt ein. Dies sollte für die Ereignisse im Januar 1923 von großer Bedeutung sein. Die litauischen Aspirationen auf die Region waren der Reichsregierung ebenso bekannt wie polnische Versuche, Einfluß in Memel zu gewinnen. Als sich auf der Botschafterkonferenz in Paris Ende 1922 abzeichnete, daß Litauens Ziele, nämlich der Anschluß an Litauen, sich in Kooperation mit den Westmächten nicht verwirklichen ließen, entschloß man sich zu dem bekannten fait accompli: Ein von Kaunas gesteuerter ‚Aufstand‘ im Memelgebiet schuf Tatsachen und erzwang den Abzug des symbolischen französischen Truppenkontingents. Stattdessen rückten reguläre litauische Armeeeinheiten in das Memelland ein. Seit kurzem wissen wir durch die Forschungen litauischer Historiker, daß die Regierung in Kaunas über ihre Absicht Berlin informiert und von dort grünes Licht für das Vorgehen bekommen hatte! Diese allein schon aus innenpolitischen Gründen delikate Zustimmung taucht verständlicherweise in den deutschen Akten nirgends auf; sie läßt sich allerdings auch indirekt aus der deutschen Lageeinschätzung belegen.

(2) Die folgenden Ausführungen basieren auf einer umfangreicheren Darstellung, die der Autor unter dem Titel ‚Die Memelfrage im Rahmen der deutsch-litauischen Beziehungen 1919-1939‘ auf einer deutsch-litauischen Historikertagung des Instituts Nordostdeutsches Kulturwerks im Oktober 1992 vorgetragen hat. Der Aufsatz wird im Rahmen eines Tagungsbandes 1993 veröffentlicht.
(3) Akten zur deutschen Auswärtigen Politik (=ADAP) A:, Bd. 1, Nr. 191.

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