Bereits Ende 1921 sah man den Sachverhalt in Berlin folgendermaßen:

„Die Reichsregierung glaubt, in einem etwaigen Anschluß des Memelgebiets (sc. an Litauen) das kleinere Übel erblicken zu sollen. Im Fall der Gründung eines Freistaats unter französi-schem Protektorat ist mit Sicherheit zu erwarten, daß die Verhältnisse sich in Zukunft kaum anders gestalten würden als unter einer de jure polnischen Verwaltung… Memel würde ein Vasallenstaat…ein französisches Gibraltar werden…“ (4)

In einer ersten Analyse interpretierte der deutsche Gesandte in Kaunas am 18. Januar das litauische Vorgehen als defensiven Schritt gegen polnisches Eindringen in Memel und zog die Schlußfolgerung: „Diese Tendenz des Unternehmens verstößt an sich weder objektiv gegen die deutschen Interessen, noch enthält sie subjektiv eine uns verletzende Note.“ (5)
Die alliierten Mächte nahmen schließlich das Vorgehen hin und gestanden die Souveränität über das Gebiet Litauen zu. Allerdings verankerten sie in der Memelkonvention sowie dem Memelstatut den Schutz der deutschsprachigen Bevölkerung und gewährten in Form des Memelländischen Landtages eine recht weitgehende Autonomie.
Zunächst gestalteten sich die Beziehungen trotz des Memelproblems durchaus freundlich, sie verschlechterten sich zusehends gegen Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre. Kaunas versuchte trotz der im Statut verankerten Sonderstellung eine nationale Politik in Memel durchzusetzen, um die Region vollständig in die litauische Republik zu integrieren. Dabei stieß die Zentralregierung auch auf den Widerspruch der Kleinlitauer, so daß bei den Wahlen zum memelländischen Landtag regelmäßig die deutsche Liste die absolute Mehrheit der Stimmen gewann. Nach dem Putsch vom Dezember 1926, der ein autoritäres, nationalistisches Regime in Kaunas an die Macht brachte, galt zudem die parlamentarisch-demokratische Regierungsform im Memelland als Fremdkörper, war man allein aus Gründen der inneren Legitimation auf einen deutlich nationalen Kurs verfallen.
Die adäquate Verhärtung der deutschen Haltung hing nicht ausschließlich mit Ereignissen in Memel zusammen, sondern war auch Reflex auf internationale und interne Entwicklungen. Das Verhältnis zur Sowjetunion verlor seine Exzeptionalität, da Moskau durch bilaterale Nichtangriffsverträge unter Einschluß Polens seine Politik der ‚kollektiven Sicherheit‘ aufnahm. Die wirtschaftliche Bedeutung der baltischen Staaten ging zurück, weil sich die deutschen Hoffnungen auf das ‚Russengeschäft‘ nicht bewahrheitet hatten; die katastrophale Depression der Weltwirtschaft tat ein übriges. Zudem geriet die Weimarer Republik in ihre letale Krise: Präsidialregime, massierte politische Gewalt, der Aufstieg des Nationalsozialismus, allgemein: die Radikalisierung im Innern förderten die Einleitung einer scharf nationalistisch geprägten Außenpolitik, die nun zum offenen Angriff auf Versailles antrat. Diese neue Ausrichtung führte zwangsläufig zu einer stärkeren Betonung der Gegensätze im Memelgebiet. Vollends illusorisch wurden gute Beziehungen durch die sogenannte Machtergreifung Adolf Hitlers, die im übrigen besser als Machtzulassung zu bezeichnen wäre.

(4) ADAP A:, Bd. V, Nr. 393. Ein weiterer Gesichtspunkt unterstreicht die ökonomische Zielrichtung der deutschen Politik: „Der Anschluß Memellands an Litauen würde im Rahmen unserer gesamten Ostpolitik auch noch den Vorteil haben, daß durch die gemeinsame Grenze Litauens mit Rußland unsere Verbindung nach Rußland über Memel nach Litauen gesichert und ausgebaut wird, eine Möglichkeit, die bei unseren bekannten wirtschaftlichen Notwendigkeiten unter keinen Umständen unterschätzt werden darf.“ Die polnische Okkupation des Wilnagebietes verhinderte allerdings eine gemeinsame litauisch-sowjetische Grenze.
(5) ADAP A: Bd.VII, Nr. 36. Die gesamte Passage lautet: „Alle Nachrichten weisen darauf hin, daß der Putsch…in erster Linie eine Abwehrhandlung darstellt gegen die drohende Konstituierung eines Freistaates, der nach – wohl berechtigter – Ansicht der litauischen Memelländer nichts anderes als eine französisch-polnische Kolonie sein würde. Mit der Wendung, die Bewegung sei der Befürchtung entsprungen, daß demnächst ‚ungebetene Gäste‘ im Memellande zugelassen würden, hat Galvanauskas in einer gestrigen Rede vor dem Sejm darauf angespielt, daß seitens der Botschafterkonferenz den Polen besonders günstige Zugeständnisse im Memelgebiet gemacht zu werden drohten.“

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