Doch damit war gewissermaßen erst eine Prälude der NS-Politik gegenüber Litauen beendet. Wie allgemein bekannt, waren die baltischen Staaten neben Polen das eigentliche Objekt des Hilter-Stalin-Paktes, auf dessen Hintergründe an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Bei der Aufteilung des nördlichen Osteuropas gehörte Litauen zunächst zur deutschen ‚Interessensphäre‘; erst im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom September 1939 wurde es als Kompensation für polnische Gebiete der sowjetischen Seite zugeschlagen. Stalin offerierte ein Gastgeschenk: Das Wilnagebiet gehörte nun zu Litauen, das noch selbständig war, wiewohl der Sowjetunion bereits im Herbst 1939 exterritoriale militärische Basen zugestanden werden mußten.
Der deutsche Siegeslauf im Westen bot Moskau die Möglichkeit, im Windschatten Hitlers die eigene Ernte einzufahren. Am 15. Juni 1940, als deutsche Truppen in Paris einmarschierten, übergab in Moskau Außenminister Molotow seinem litauischen Kollegen ein Ultimatum, das wegen einer angeblicher Konspiration der litauischen Regierung gegen die UdSSR den Einmarsch sowjetischer Truppen forderte. Molotow fügte noch wörtlich hinzu: „Die [Rote] Armee marschiert morgen in Litauen ein, egal wie Ihre Antwort ausfallen wird.“ (10) Damit war das Ende des ersten unabhängigen litauischen Staates der Neuzeit besiegelt.
Sofort wurde eine moskaufreundliche Regierung eingesetzt, pseudodemokratische Wahlen veranstaltet, deren ‚Ergebnis‘ nicht überraschen kann: Am Sieg der einzigen zugelassenen Gruppierung, der Volksfront Litauens, in der die kommunistische Partei nach außen nur einen unscheinbaren Platz einnahm, war natürlich nicht zu zweifeln. Das neue Parlament bat im Juli um die Aufnahme Litauens in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken; diesem Ersuchen stimmte der Oberste Sowjet am 3. August 1940 zu. Die sowjetischen Organe gingen sofort nach diesem Schauspiel daran, aus Litauen eine Sowjetrepublik zu machen. Die theologische Fakultät in Kaunas wurde geschlossen, Klöster verwandelte man nach Vertreibung ihrer Bewohner zu Kasernen der Roten Armee. Die Wirtschaft wurde entprivatisiert und in die gewohnten staatseigenen Betriebe überführt. Landwirtschaftlicher Privatbesitz existierte nur noch auf Kleinparzellen, ansonsten wurde das Sowjetsystem mit Sowchosen und Kolchosen eingeführt. Besonderes Augenmerk galt den ‚Klassenfeinden‘. Das NKWD, die sowjetische politische Polizei, war für die Deportation von zehntausenden Litauern verantwortlich, deren Schicksal teilweise bis heute nicht aufgeklärt ist. Anfang Juni 1941 zeichnete sich eine neue Terrorwelle ab; innerhalb weniger Tage wurden 30 bis 40 000 Menschen deportiert. Am Sonntag, dem 22. Juni 1941, änderte sich die Lage schlagartig: Um 3.15 Uhr griff Nazi-Deutschland mit über 3 Millionen Soldaten die Sowjetunion an; bereits eine Woche später war ganz Litauen von der deutschen Wehrmacht besetzt.
Mit diesem Überfall begann für Adolf Hitler sein eigentlicher Krieg. Nur unter den rassistisch-ideologischen Prämissen des ‚Führers‘ und seiner Gefolgsleute ist die mörderische Art, in der der Kampf von deutscher Seite geführt wurde, nachvollziehbar. Es handelte sich eben nicht um eine bloße politisch-militärische Konfrontation, sondern an diesem Sonntag im Juni 1941 nahm der „ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs,- und Vernichtungskrieg der modernen Geschichte“ (11) seinen Anfang.

(10) Zit. nach den Memoiren von Juozas Urbšys: Atsimininai, Kaunas 1990, S.93: Be to, kad ir koks butų jusų atsakymas, kairiuomenė rytoi vis tiek žengia į Lietuvą.
(11) Zit. nach Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, München (2) 1984, S.436.

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