Eine Erörterung des deutsch-litauischen Verhältnisses in den Jahren 1941 bis 1944 wäre unvollständig ohne ein kurzes Eingehen auf die schrecklichste Komponente dieser Beziehung. Hinter den vorrückenden deutschen Truppen folgten spezielle Kommandos der SS und des SD (Sicherheitsdienst), die sogenannten Einsatzgruppen: Ihr Auftrag lautete auf Massenmord, vor allem der jüdischen Bevölkerung, aber auch kommunistischer Funktionäre und ‚anderer verdächtiger Elemente‘. Für das Baltikum war dabei die Einsatzgruppe A zuständig. In Litauen existierte eine relativ umfangreiche jüdische Bevölkerung, die sich vor allem in den Städten Kaunas und Vilnius konzentrierte. Heute erinnert an der Autobahn von Kaunas nach Klaipeda eine Gedenkstätte an das Schicksal der Kaunaser Juden. Nach der sofortigen Zusammenballung in einem Ghetto schlugen die Mörder vom 4. Juli bis zum 29. Oktober 1941 zu: Auf dem Gelände des IV., VII. und IX. Forts, Festungsanlagen aus der Zarenzeit, wurden Tausende von Menschen durch die Einsatzgruppen und litauische Kollaborateure in den Schützengräben zusammengedrängt, dann wurde mit Maschinengewehrsalven von oben in die Menschen gefeuert. Die Einschläge in den Mauern der Gräben sind heute noch zu sehen. Bis zum 1. Dezember 1941, so der akribische Bericht des Einsatzkommandos 3, wurden allein von diesem Kommando 137 346 Menschen in Litauen und zu geringen Teilen in Weißrußland ermordet. In den ersten Tagen des Rußlandfeldzuges versuchten die SS-Führer den zweifellos vorhandenen Antisemitismus der einheimischen Bevölkerung für Pogrome auszunutzen und hatten dabei teilweise Erfolg. Diese Komplicenschaft von manchen Litauern, die später in SS-Einheiten zusammengefaßt auch Massenmorde in der Ukraine begingen, gehörte 50 Jahre lang zu den Tabuzonen der litauischen Geschichte.
Es ist daher wichtig und erwähnenswert, daß 1994 in Vilnius eine Konferenz von litauischen, jüdischen und deutschen Historikern stattgefunden hat, die gemeinsam die weitere Erforschung initiieren und voranbringen wollen.

Im Jahr 1944 zeichnete sich die Tragödie Litauens bereits deutlich am Horizont ab: Die Rote Armee hatte die deutschen Invasoren endgültig geschlagen; es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Stalins Truppen Litauen zurückeroberten. Für viele Litauer stellte sich nun die Frage der Wahl zwischen Skylla und Charibdis. Man wußte, was man vom sowjetischen System zu vergegenwärtigen hatte, man hatte aber auch einschlägige Erfahrungen mit NS-Deutschland gesammelt. Dennoch begann ein Exodus: Viele tausend Litauer, oft mit akademischer Bildung und sicherlich nur zu einem gewissen Teil Kollaborateure oder gar Kriegsverbrecher, verließen mit den sich zurückziehenden deutschen Truppen ihre Heimat. Nach dem Krieg fanden viele von ihnen eine neue Bleibe in den USA, England, der Schweiz, aber auch Deutschland. Mit der fliehenden deutschen Bevölkerung Ostpreußens zog auch praktisch der gesamte kleinlitauische Teil der Nation. Auf die Frage, wo die Kleinlitauer denn heute seien, antwortete mir ein litauischer Kollege und Freund im Sommer 1992 lakonisch: „In Amerika“. Damit endete eine Jahrhunderte andauernde gemeinsame Geschichte, die Deutsche und Litauer als Nachbarn und Freunde, aber auch als Gegner und Kontrahenten in einer zusammen bewohnten Region gesehen hatte. Als die Rote Armee am 28. Januar 1945 Memel eroberte, sollen sich ganze zwei Zivilisten in der Stadt befunden haben.

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