Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Die Gesellschaft im Großfürstentum Litauen entstand auf der Grundlage zweier ethnischer Gruppen – der Litauer und der West-Russen.
Ziemlich bald wurde Litauen zur neuen Heimat für emigrierte Spezialisten unterschiedlicher Herkunft, die von den Großfürsten nach Litauen eingeladen und von ihnen unterstützt wurden. Trakai, die der burgundische Edelmann Gilbert de Lannoy 1413 als eine große aus Holz erbaute Stadt mit zwei Burgen beschrieb, widerspiegelt den Mikrokosmos im Großfürstentum Litauen:
In der Stadt Trakai und in den Dörfern der Umgebung gibt es viele Tataren, die in familiären Gruppen leben – echte Sarazenen, die vom Glauben Jesu Christi nichts wissen und in ihrer tatarischen Sprache kommunizieren. In der Stadt leben Deutsche, Litauer, Russen und sehr viele Juden.
Der Beginn der Ansiedlung von Juden in Litauen ist mit dem Jahr 1388 verbunden, indem ihnen das Privilegium durch den Großfürsten Vytautas den Großen verliehen wurde. Es ist ungeklärt, ob dieses Privileg an die rabbinistischen Juden in Trakai oder an die Karäer verliehen wurde, die sich von diesen durch das Nichtvorhandensein der rabbinischen Religionstradition unterscheiden, durch ihre östliche Sprache (sie schreiben tatarisch und benutzen hebräische Schrift) und durch östliche Sitten und Bräuche. Die Karäer hielten enge Beziehungen zu ihren Glaubensbrüdern in Konstantinopel.
Die Juden dienten dem Herrscher im Großfürstentum Litauen auf verschiedene Weise. In Polen lag die Steuerhoheit in den Händen der Städte, im Großfürstentum Litauen und in der polnischen Roten Rus jedoch wurde diese Aufgabe an die jüdischen Emigranten übertragen. Juden dienten als Leibärzte bei Hofe und wurden wie auch die Tataren als Gesandte bestimmt, besonders für die östlichen Länder. Ihnen wie auch den armenischen Gemeinden waren die östlichen Traditionen und Länder seit langem vertraut. Seit 1621 hatten die litauischen Juden einen eigenen Rat oder Va’ad, unabhängig von den Glaubensbrüdern in Polen und weigerten sich, Juden aus dem Königreich Polen aufzunehmen, um die Besetzung von Positionen der Jüdischen Gemeinde in Litauen zu verhindern. Ähnlich verhielt sich auch der litauische Adel in den Beziehungen zum polnischen Adel. In der zweiten Hälfte des 17. Jh. ließen sich Juden in vielen kleinen Städten Litauens nieder, und in Vilnius entstanden religiöse Bewegungen wie die von Gaon, die das Bild des Litvaks, des litauischen Juden, für Jahrhunderte prägten.
Trakai wurde zur Heimat auch für die Tataren, die von Vytautas dem Großen in die Stadt und in die seinem Hof zugehörigen Siedlungen der Umgebung gebracht wurden. Sie flüchteten vor den Bürgerkriegen in den Tatarenhorden im südlichen Rus oder waren Kriegsgefangene. Tataren dienten dem Großfürst als Krieger und ehrten auch später die Erinnerung an Vytautas den Großen als ihren Beschützer in guten alten Zeiten.
Deutsche waren meist Hanse-Kaufleute, die in Litauen einen kurzen oder längeren Aufenthalt hatten. Sie trieben Handel nach eigenem Privileg, lebten in großen Städten und standen unter dem Schutz des Herrschers. Jede Gemeinde hatte Beziehungen zum Herrscher, doch Beziehungen zwischen den verschiedenen Ethnien im Großfürstentum Litauen gab es keine. Das Fehlen einer gemeinsamen politischen Gesellschaft bestimmte später das fatale Schicksal des litauischen Staates.