Wirtschaft und kulturelles Leben
Während des halben Jahrhunderts der Zugehörigkeit zur Sowjetunion erfuhr Litauen Kollektivierung, Industrialisierung und Urbanisierung, es entstand die moderne Stadt- und Industriegesellschaft, die viel moderner war als die der Zwischenkriegsperiode in der Zeit der Unabhängigkeit. Natürlich wurde der größte Teil dieser geschaffenen Industrie nicht für die Eigenversorgung Litauens benötigt. Sie wurde künstlich geschaffen und war nach den Maßstäben der Weltwirtschaft weder konkurrenzfähig noch effizient und hatte zudem koloniale Züge, schuf jedoch die städtische Lebensweise in Litauen.
Im streng zentralisierten und vereinheitlichten Staat musste die örtliche Verwaltung die aus Moskau kommenden Direktiven zur wirtschaftlichen Entwicklung blind befolgen und konnte die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse wenig beeinflussen. Doch im Gegensatz zu Lettland und Estland wurde die Entwicklung der Industrie dezentralisiert betrieben und nicht nur auf wenige Städte konzentriert. Auf diese Weise wurden die örtlichen Arbeitsressourcen besser genutzt und der Strom der Emigranten aus Russland verlangsamt. Dies ist eine der Hauptursachen, warum Litauen litauisch blieb. Nach der Bevölkerungszählung 1989 waren 79,9% der Bevölkerung Litauer. Sie machten in allen Städten die Mehrheit der Bevölkerung aus, außer in Visaginas, das für die Beschäftigten eines Kernkraftwerkes gebaut wurde.
Der II. Weltkrieg und die Nachkriegszeit bewirkten erhebliche demographische Veränderungen: nach dem Krieg gab es fast keine Juden mehr in Litauen, 1944 wurde das Memelland von fast allen Deutschen verlassen, 1944–1947 und 1956–1959 wurde das Gebiet Vilnius von fast 200 000 Polen verlassen. Die Litauer erlitten ebenfalls große Verluste: Tausende sind im Krieg gefallen, 1944 emigrierten 60000 in den Westen, ca. 50000 fielen im Widerstandskrieg, ca. 200 000 wurden deportiert. Doch durch die hohen Geburtenzahlen und durch die Rückkehr vieler Deportierten und Gefangenen wurde bereits 1959 wieder das Vorkriegsniveau der Bevölkerung erreicht. Trotz der klaren Russifizierungstendenzen nahm die Sowjetmacht den Litauern nicht ihre Muttersprache. Natürlich war Russisch in der Schule Pflicht, doch es war möglich, das Abitur und das Hochschulstudium in der eigenen Muttersprache zu absolvieren und die eigenen kulturellen Bedürfnisse in eigener Muttersprache zu befriedigen. Jedoch durften die Ausbildung und das kulturelle Leben den eng vorgegebenen Rahmen nicht verlassen.
Schon in den ersten Tagen der sowjetischen Okkupation begann eine ideologisierte Kulturrevolution, die sich in der Vereinheitlichung des Bildungssystems, in der Monopolisierung der Ausbildung der Staatsbeamten, in der bolschewistischen Umerziehung der Intelligenz und in anderen Kontrollhandlungen und Einschränkungen der eigenständigen Kulturentwicklung ausdrückte. Der Analphabetismus wurde beseitigt, die unentgeltliche Bildung wurde eingeführt, die achtjährige Grundschule wurde zur Pflicht – das waren zweifellos Erfolge. In der gesamten Zeit war die Bildung aber mehr ein Mittel zur Indoktrinierung des Volkes als ein Mittel zur Wissensverbreitung.
Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg wurde das traditionelle Kulturleben Litauens zerstört und später nach dem durch Moskau bestimmten Apriori-System des „Erschaffens der sozialistischen Kultur“ geformt, streng nach dem Kanon der kommunistischer Ideologie.
Unter der übertriebenen Anwendung der „sozialistisch- realistischen“ Methode litten sogar die Kulturschaffenden, die das Regime überzeugt unterstützten. Als nach dem Tod von Stalin das politische Tauwetter begann, wurden die Grenzen des „sozialistischen Realismus“ ein wenig erweitert. Im künstlerischen Schaffen verbreitete sich die Suche nach neuen künstlerischen Formen, versteckt unter kommunistischer oder nahestehender Thematik. Wie sonderbar es einem auch erscheint, erschienen moderne W.I. Lenin darstellende Kunstwerke, Bilder, Plastiken, Theaterstücke. Bei näherer Betrachtung konnte man nicht eine linientreue Darstellung des Revolutionsführers sehen, sondern eher die Desakralisierung dieser Figur.
Als die Wachsamkeit der Ideologiewächter nachliess, kamen viele neue Stile und Genres zu der vorher totalitär kontrollierten Literatur hinzu. Auf diese Weise entstand ein apolitisches Schaffensfeld, das von den Parteiideologen und Propagandisten als verdächtig eingestuft und doch toleriert wurde. Die Schaffensinhalte blieben mehr oder weniger sowjetisch (doch viel geringer als während der Zeit des Stalinismus), es gab jedoch subtile Elemente und Anspielungen, die bei einem großen Bevölkerungsteil mit Opposition assoziiert wurden.
Das moderne, die damalige Zeit widerspiegelnde Schaffen bildete schon selbst eine Opposition gegenüber dem normativen kanonartigen „sozialistischen Realismus“ und den Prinzipien des kommunistischen Regimes. Doch nur wenige künstlerische Werke in Litauen gerieten auf den „Index“ und durften nicht veröffentlicht werden. Die Kulturschaffenden versuchten, die erlaubten Grenzen nicht zu weit zu überschreiten, die durch eine komplizierte Abstimmung der Partei- und repressiven Institutionen mit den Leitern der künstlerischen Organisationen und Kollektive ausgehandelt wurden. Das Schaffen „für die Schublade“ war nicht verbreitet.
Mikalojus Konstantinas Ä
Mikalojus Konstantinas Ciurlionis und die litauische Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teil II.
Seine Prägung als Künstler erfuhr Ciurlionis im Umkreis der polnischen Kunstbewegung Junges Polen, wo er dem Einfluss des Neoromantismus, Symbolismus und des Art Nouveau ausgesetzt war. Er vertiefte sich in den Intuitivismus, die Theosophie, den Okkultismus, die Esoterik, die Kosmogonie und die experimentelle Psychologie sowie in die alten Religionen und Kulturen des Ostens – Ideen, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa verbreitet waren. Seine frühen Werke sind gezeichnet von der Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten Ikonographie des Symbolismus, doch erreichte er bald seine künstlerische Reife und schuf seine eigentümliche, individuelle Bilderwelt.
1907 zog Ciurlionis nach Vilnius und schloss sich sogleich der litauischen Bewegung für die nationale Wiedergeburt an. In Vilnius debütierte er 1907 mit seinen Werken in der Ersten litauischen Kunstausstellung und wurde zum aktiven Mitglied des Litauischen Kunstvereins, einer im selben Jahr gegründeten Organisation der professionellen nationalen Kunst. Der Verband vereinigte die im Ausland lebenden litauischen Künstler und veranstalte bis zum Ersten Weltkrieg jährliche Ausstellungen ihrer Kunst.
Die jungen Künstler zeigten von litauischer Thematik geprägte Werke: bäuerlicher Alltag, Volkstypen und litauische Landschaften. Ciurlionis organisierte in Vilnius nicht nur Veranstaltungen des Litauischen Kunstvereins, er stellte auch selbst aus, arbeitete als Leiter eines litauischen Chors und arbeitete viel an seinem künstlerischen Werk. Hier in Vilnius begegnete er seiner zukünftigen Ehefrau, der Schriftstellerin Sofija Kymantaite. Auch sie war Mitglied der litauischen Bewegung für nationale Wiedergeburt. Sie war es übrigens, die Ciurlionis die litauische Sprache beibrachte, denn der hatte von klein auf nur polnisch gesprochen und geschrieben.
Obwohl die Vilniusser Periode eine besonders fruchtbare und aktive Zeit in Ciurlionis’ Leben war, zog es den Künstler doch in die Metropolen der Kunst und nach der Anerkennung, die er sich dort erhoffte. 1908 übersiedelte Ciurlionis nach Sankt Petersburg, wo er mit kurzen Unterbrechungen bis 1909 lebte.
In Sankt Petersburg malte er viel, seine Bilder wurden dekorativer und ornamentreicher, ihre Farben kräftiger. Doch das Publikum und die meisten Kunstkritiker verkannten sein Werk, die Sammler waren nicht am Erwerb seiner Bilder interessiert, und der Künstler konnte sich nur mit Mühe finanziell über Wasser halten.
Das Bild Rex ist Ciurlionis’ kompliziertestes und größtes Werk. Im Zentrum des Bildes thront der erhabene Herrscher des Alls, eine große dunkle Kontur zeichnet seine helle Silhouette nach. Der Thron des Herrschers steht auf einer durchsichtigen Erdkugel; in deren Zentrum brennt ein Feuer, das sich auf einer Wasserfläche widerspiegelt. Die Erdkugel ist umgeben von Bergen und übereinanderliegenden Sphären der Erde, noch höher dann vom Himmel mit den Sternen-, Kometen-, Sonnen- und Mondsphären, denen ein Zug beflügelter Engel folgt. Die Hauptgewalten des Universums – Erde, Wasser, Feuer und die Himmelskörper – unterliegen einer erhabenen hierarchischen Struktur. Die vielen Elemente verbindet Ciurlionis meisterhaft zu einem Ganzen und bedient sich dabei überraschender Metamorphosen – Wolken werden zu tauendem Schnee u. ä. ; den Bildraum teilt er nach einem zeitlichen Rhythmus ein (Tag und Nacht, hell und dunkel).
In diesem Bild, wie auch in anderen späten Bildern, schuf Ciurlionis einen vielschichtigen, perspektivenreichen und zugleich dekorativen Raum, womit er einen einzigartigen Beitrag zur europäischen Kunst der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert leistete.
Der auf dem Thron sitzende, gekrönte Herrscher über das Universum, bleibt im Schatten. Wer ist dieser unbekannte, fremde, über alles herrschende Gott? Dieses geheimnisvolle Rätsel gibt Ciurlionis uns auf, ohne uns das Gesicht der Königsfigur zu zeigen oder eine Antwort zu geben. Rex ist das letzte Gemälde des Künstlers. Seine intensive schöpferische Tätigkeit sowie die stete materielle Not raubten ihm die geistige und physische Gesundheit. Der Künstler starb 1911 in einem Sanatorium bei Pustelnik nahe Warschau.
Ciurlionis’ Kunst ist der Welt wenig bekannt, doch bedeutende europäische Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller und Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schätzten ihn als innovativen Visionär und Genie der Kunstsynthese.
Die Kunst von Ciurlionis war auf großen Ausstellungen zu sehen, z.B. „Zum Raum wird hier die Zeit. Die Symbolisten und Richard Wagner“ (Berlin, Brüssel, 1991), „Territorium artis“ (Bonn, 1992), „Okkultismus und Avantgarde: von Munch bis Mondrian: 1900-1915“ (Frankfurt a. M., 1995) und anderen. Retrospektiven seines Schaffens gab es 1992 im Sezon-Museum in Tokio, 1998 in Köln, 2000 im Musée d’Orsay in Paris, 2001 in den Nationalmuseen von Warschau und in Poznań (Posen). Die Bilder von Ciurlionis repräsentieren das Panorama der europäischen Kunst der Jahrhundertwende und bereichern dieses maßgebend.
Das M.-K.-Ciurlionis Museum für bildende Kunst befindet sich im Hauptgebäude des M.-K.-Ciurlionis-Nationalmuseums in Kaunas in der V.Putvinskio g. 55.
Volksmalerei
Die Malerei gehört in der Volkskunst in Litauen zu den figurativen Künsten. Motive alter Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen sind of Stationen aus dem Leben Christi, der Jungfrau Maria oder Heiliger. Die Bilder sind auf Holz, Metallplatten oder Leinwand gemalt und finden sich oft in Kirchen oder Kapellen. Die meisten von ihnen stammen aus dem 19. Jahrhundert, doch einige wenige datieren aus dem 18. Jahrhundert oder noch früherer Zeit. Bei der Einordnung der Gemälde muss man zwischen den Werken von naiven und akademisch gebildeten Künstlern unterscheiden. Die zur Volksmalerei zählenden naiven Gemälde fallen durch ihre Einfachheit, harmonische Komposition und die Wiederkehr bestimmter Motive auf und wurden meist von älteren Künstlern geschaffen, die sich das Malen selbst beibrachten. Daher finden sich auch in der naiven Volkskunst, die von der klassischen Kirchenkunst inspiriert wurde, Einflüsse der jeweils vorherrschenden Malstile.
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte die Malerei einen ungeheuren Aufschwung, jedoch wurde wegen der Unterbrechung nach dem Krieg nicht direkt an die traditionelle Volkskunst angeknüpft. Auch hier kam es wieder zur Aufteilung in die zwei Gruppen naive und akademische Kunst, wobei die naiven Künstler nach der ersten Ausstellung sofort weltweit bekannt wurden. Die besten Werke aus den Siebzigern wurden in die Welt-Enzyklopädie der Naiven Kunst aufgenommen (M. Bičiunienė, J. Nalivaikienė, M. Kozmina, M. Juščiunienė, E. Kniuškaitė, B. Zavackis und andere). Viele dieser Künstler begannen ihre Karriere erst in mittleren Jahren oder im Alter. Ihre Bilder zeigen Dörfer aus ihrer Jugend, Szenen aus der Natur oder Feiertagsimpressionen und bilden eine harmonische Welt ab, in der der Mensch im Einklang mit der Natur lebt. Der Stil der einzelnen Künstler ergibt sich aus ihren individuellen Ansichten, Lebenserfahrungen und ihrer Vorstellungskraft. Die meisten dieser Bilder haben auch hohen ethnographischen Wert, da sich durch die Abbildung von Menschen, Gebäuden und Szenen aus dem Dorfleben die Volkskultur in lebendigen Farben spiegelt. Naive Kunst hat einen großen Anteil an Ausstellungen und Wettbewerben. Einer der bekanntesten Kunstpreise ist der jährlich in Joniskes vergebene A. Varnas-Kunstpreis.