Der Widerstand
Die Inhalte, die Russland nach Litauen brachte, unterschieden sich sowohl im politischen als auch im kulturellen Sinn sehr von der früheren Lebensweise in diesem Gebiet. Darum ist es natürlich, dass eine solche Situation Litauens für viele seiner Bewohner als eine Übergangssituation verstanden wurde und man auf die Gelegenheit wartete, den alten Staat, die Republik der zwei Nationen, wieder zu gründen. Einerseits versuchten die litauischen gesellschaftlichen Eliten bei jeder Gelegenheit, ihr eigenes Schicksal mit dem Schicksal Polens, das mindestens aus politischer Sicht in einer besseren Situation war, zu verknüpfen. Andererseits wurde die Forderung auf einen unabhängigen Teil des gemeinsamen Staates erhoben. Die Herrschaft Russlands bedeutete ein endgültiges Ende der politischen Tradition, und die Litauer wurden dabei zum historischen Volk oder verloren den Charakter eines eigenständigen Volkes, während das Verknüpfen des eigenen Daseins mit Polen die Möglichkeit einer Teilrestauration der Staatlichkeit bedeutete. Das gesamte 19. Jh. stand Litauen also vor der Alternative: Existenz Litauens im Bündnis mit Polen oder Nichtexistenz Litauens innerhalb von Russland. Die absolute Mehrheit des Volkes hätte ohne Zweifel die erste Variante gewählt. Obwohl das von Russland annektierte Großfürstentum Litauen in wenigen Jahrzenhnten in ein anonymes West- oder Nordwest – Land verwandelt wurde, tauchten die Konturen seiner Staatsintentionen immer wieder kurz auf, besonders während der Aufstände. Obwohl alle Aufstände erfolglos blieben und alle Verschwörungen aufgeklärt wurden, blieb dieser Kampf Symbol seiner Zeit.
Der Anfang der Befreiungskämpfe ist zweifellos der Aufstand unter der Leitung Tadeusz Koœciuszko im Jahre 1794. Dabei bildeten sich die wichtigsten Züge heraus, die man später auch bei den anderen Befreiungskämpfen findet. Schon bei diesem Aufstand konnte man die Bestrebungen der litauischen Aufständischen erkennen, eine gewisse Unabhängigkeit dieses Landes von Polen zu deklarieren und damit eine gewisse Selbstständigkeit im Kampf gegen Russland zu zeigen. Eine andere Besonderheit dieses Aufstandes, die zur Tradition des Befreiungskampfes im 19. Jh. wurde, waren die Bestrebungen, die litauischen Bauern in einer ihnen verständlichen Sprache anzusprechen und sie so auf die eigene Seite zu ziehen. Andererseits waren auch die Bemühungen der Russen offensichtlich, die Bauern gegen den Adel aufzubringen und so die Kräfte der Aufständischen zu spalten. Ein weiterer Zug dieser und späterer Aufstände war eine große Welle politischer Emigration, in deren Folge nach zwei anderen Aufständen in Westeuropa, besonders in Frankreich, Vereinigungen der litauischen und der polnischen Emigranten gegründet wurden, in denen politische und militärische Formierungen und radikalste Vorhaben reiften.
Zweifellos hing die Befreiung von der russischen Herrschaft direkt von der internationalen Lage ab. Die einzige Kraft, die Anfang des 19. Jh. Russland und seinen Verbündeten Österreich und Preußen trotzen konnte, war Napoleons Frankreich. Während seines siegreichen Zuges durch Europa versuchte Napoleon mit diplomatischen Mitteln die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Republik zweier Nationen und auf die Befreiung von Unterdrückung wiederzubeleben. Nach Behauptungen französischer Informanten war Litauen bereit, mit seinem Aufstand die Handlungen der Napoleonischen Truppen zu unterstützen. Obwohl nicht genau festgestellt werden konnte, wie viele Litauer auf französischer Seite gekämpft haben, vermutet man, dass während der ganzen Napoleonperiode ca. 200 000 litauische und polnische Männer in den französischen Legionen verzeichnet waren. Ungefähr die Hälfte von ihnen ist gefallen, und das Volk Litauens selbst wurde enttäuscht. Die Enttäuschung der litauischen Gesellschaft wurde sowohl durch den Tilsiter Frieden verstärkt, als auch durch den kurzen Aufenthalt der Franzosen am Fluss Memel (lit. Nemunas). Im Jahr 1812 wurde Napoleon in Vilnius genauso enthusiastisch empfangen wie er es sich auch erhofft hatte. Doch die allgemeinen Demokratisierungstendenzen und Nationalbestrebungen, zweifellos eine Folge des französischen Zeitalters, halfen dem litauischen Volk, seine Rechte als Volk zu begreifen und die Freiheitsidee zu bewahren. Ganz deutlich zeigten dies die Ereignisse 1830–1831: ein neuer, ebenfalls niedergeschlagener Aufstand gegen die Herrschaft Russlands. Obwohl man wenig über das politische Programm der litauischen Aufständischen weiß und schwer zu sagen ist, wie sie sich Litauen vorstellten, obwohl ihr Hauptziel die Befreiung von der russischen Herrschaft war, ist es wichtig zu erwähnen, dass eben durch diese Ereignisse nicht nur der Adel, sondern auch die Bauern allmählich zu verstehen begannen, was der Begriff Heimat bedeutet.
Immer lauter wurden die Forderungen der Bauern nach Freiheit und Land, weswegen sie den Aufstand unterstützten. Dies wurde besonders offensichtlich während eines anderen Aufstands 1863. Obwohl das Hauptziel des Aufstands politisch war – Wiederherstellung des zusammengebrochenen Staates – wurden seine sozialen Ziele deutlich.
Die Anführer des Aufstandes konnten die Bauernfrage nicht ignorieren und mussten diesen mehr als die zaristische Administration bieten. Und obwohl der Aufstand scheiterte, war die russische Macht gezwungen, die Bodenreform zu unterstützen sowie bessere Lebensbedingungen für litauische Bauern und dadurch eine soziale Stütze ihrer Politik gegen den rebellierenden Adel zu schaffen. Doch die Niederschlagung des Aufstands von 1863 war ein großer Schlag gegen die traditionelle Kraft der litauischen Gesellschaft, den Adel. Die Opfer des Kampfes, die Emigration in den Westen, Verbannung in den Osten, Konfiszierung der Höfe, Russifizierung der Kultur – all dies hatte die politische Stimmung verändert. Je zahlreicher die Beteiligung der Bauern wurde und je mehr die Intelligenz in den Vordergrund trat, desto schwächer wurde die Adelsposition. Tatsächlich gab es zu dieser Zeit im Leben Litauens einen regelrechten Bruch.
In der weiteren Entwicklung der Ereignisse kristallisierten sich neue politische und kulturelle Bestrebungen des litauischen Volkes heraus, die Ende des Jahrhunderts die Form einer mächtigen Nationalbewegung annahmen. Nachdem der Adel das Kampffeld fast verlassen hatte, bildete die neue Generation der Intelligenz, die aus von der Leibeigenschaft befreiten Bauern heranwuchs, den Schwerpunkt dieser Bewegung.
Die Nationalbewegung, die mit der Sorge um die Erhaltung der Muttersprache begann, breitete sich aus und wurde immer stärker. Zuerst richtete sie sich gegen die Russifizierungspolitik und das Aufdrängen des orthodoxen Glaubens und verstärkte sich besonders nach dem Aufstand von 1863. Seit Beginn der achtziger Jahre beobachtete man im Kampf für die nationale Presse, für die Schulbildung, für die allgemeine Verbreitung des Nationalbewußtseins einen qualitativen Sprung, wofür auch die Gründung der illegalen Presse charakteristisch ist.
Gerade zu dieser Zeit begann man in Ostpreußen mit der Herausgabe der litauischen Zeitschrift „Aušra“ (Morgenröte) (1883–1886), später wird von litauischen Studenten in Warschau die Zeitschrift „Varpas“ (Die Glocke) (1889–1905) gegründet. Diese Ausgaben einten nicht nur die litauische Intelligenz, sondern begünstigten die Verbreitung litauischen Kulturlebens und brachten eine neue Tendenz hervor – eine eindeutige Abgrenzung der litauischen von den Zielen der polnischen Nationalbewegung und den Traditionen der Republik der zwei Nationen.
Die litauische Nationalbewegung erzielte mit ihrer illegalen kulturellen Tätigkeit bedeutsame kulturelle Erfolge; die litauische Kultur erreichte ein höheres Niveau und konnte die kulturellen Grundbedürfnisse eines zivilisierten Volkes befriedigen. Es bildete sich eine vergleichsweise zahlreiche litauische Intelligenz heraus. Die Nationalbewegung beeinflusste immer mehr auch die litauischen Bauern. Es entstanden die ersten mit der litauischen Bewegung verbundenen politischen Parteien. Der Einfluss der polnischen Nationalbewegung und der polnischsprachigen Kultur schwächte merklich ab. Das Jahr 1905 zeigte, dass die Litauer de facto eine ethnopolitische Gemeinschaft geworden waren, die einen territorial-politischen Nationalstatus beanspruchte.
Politische Geschichte und Entwicklung in Litauen
Litauen wurde 1009 zum ersten Mal in den Quedlinburger Annalen im Zusammenhang mit dem Mönch Bruno von Querfurt erwähnt. Im 13. Jh. wurden die einzelnen Fürstentümer vom Großfürst Mindaugas gewaltsam vereint und dies führte zur Entstehung des ersten litauischen Staates. Der Großfürst nahm 1251 das Christentum an und ließ sich zwei Jahre später (also 1253) zum König von Litauen krönen. Da es in der Dynastie keinen Nachfolger gab, endete somit auch die litauische Monarchie. Mindaugas blieb der einzige König in der Geschichte von Litauen.
1323 wurde die Hauptstadt Litauens – Vilnius – durch den Großfürsten Gediminas gegründet. Das einzige, was dem Staat zur gleichberechtigten Stellung mit anderen europäischen Staaten fehlte, war das Bekenntnis zum Christentum. Die Christianisierung Litauens wurde 1387 vollzogen. In Vilnius wurde das Bistum gegründet, und der Stadt wurde das Magdeburger Stadtrecht verliehen.
Unter den Großfürsten Gediminas, Algirdas und Kęstutis wurde Litauen zur europäischen Großmacht. Ostslawische Fürsten schlossen sich nach dem Einfall der Tataren in Osteuropa Litauen an. Das Großfürstentum Litauen expandierte und unter dem Großfürst Vytautas erstreckte es sich bis zum Schwarzen Meer. Die Schlacht von Tannenberg 1410 beendete den fast 200-jährigen Krieg mit dem Deutschen Orden. Vytautas zentralisierte die Staatsführung und schuf sich einen Herrschafts- und Verwaltungsapparat.
Das Großfürstentum Litauen war recht einflussreich in Mitteleuropa. Nachfahren des Großfürsten Gediminas herrschten über das Großfürstentum Litauen, Polen, Ungarn und Tschechien. In dieser Zeit (15.-16. Jh.) fand die Annäherung zwischen Litauen und Polen statt. 1569 wurde die Union von Lublin durch beide Staaten unterzeichnet, durch die eine Republik beider Völker geschaffen wurde (sie bestand bis 1795). Die Konföderation hatte einen Herrscher – den litauischen Großfürsten und den polnischen König, eine gemeinsame Adelsversammlung, den Seimas, eine gemeinsame Außenpolitik und gemeinsames Geld. Getrennt blieben die Exekutive, das Rechtssystem, die Truppen und die Staatskasse. Auch die Grenzen und sogar die Staatsnamen blieben erhalten.
Im 17. und 18. Jh. wurde die politische Lage immer komplizierter. Die im 16. Jh. erlassenen Rechtsakten, drei Statuten und weitere Rechtskodexe gaben den Adeligen weitgehende Rechte. Im Seimas galt das Recht des liberum veto, das bedeutete, dass der Widerspruch eines einzigen Adeligen den Erlass des Gesetzes verhindern konnte.
Die Nachbarländer nutzten die Schwäche des Litauisch-Polnischen Staates und eigneten sich Teile seiner Territorien an. In der Zeit zwischen 1772 und 1795 führten Österreich, Preußen und Russland die drei Teilungen des Staates durch. Litauen wurde Teil des russischen Imperiums. Während des russisch-französischen Krieges besetzten die französischen Truppen Litauen, und Napoleon selbst verbrachte 19 Tage in Vilnius. Die Reste der französischen Armee erreichten die Stadt auf ihrem Rückmarsch von Osten im Dezember 1812.
Das 19. Jahrhundert war für die litauischen Bürger von großer Bedeutung, weil sich damals das moderne litauische Volk entwickelte. Dies geschah unter dem Einfluss der Kulturgesellschaften und der Heranbildung der litauischen Literatursprache. Es kam zwei Mal zu Aufständen gegen die Zarenherrschaft 1830/31 und 1863/64. Nach dem ersten Aufstand wurde die Universität Vilnius geschlossen, nach dem zweiten erfolgte ein Druckverbot für alle Publikationen auf Litauisch und in lateinischer Schrift, das 40 Jahre lang andauerte (bis 1904). In diesem Zeitraum wurden litauischen Schulen geschlossen und neue Schulen, in denen nur russisch unterrichtet wurde, geöffnet. Neue Katholische Kirchen durften nicht mehr errichtet werden, nur orthodoxe Kirchen wurden eröffnet. Diese Faktoren hemmten zwar die kulturelle Entwicklung Litauens, stärkten aber den Bürgersinn und riefen Nationalbewegungen in der 2. Hälfte des 19. Jh. hervor. Die Litauer begannen illegale Schulen zu gründen und dort die Kinder im Litauischen zu unterrichten. Das wichtigste Zentrum für den Druck litauischer Publikationen wurde Tilsit im benachbarten Ostpreußen. Von dort brachten Bücherträger auf illegale Weise zahlreiche Werke nach Litauen. Ein Zeichen des Heranreifens einer Nation war der immer lauter werdende Ruf nach Staatlichkeit. Auf der „Großen Versammlung in Vilnius“ 1905 forderten die Litauer die Gewährung von Autonomie für das Gebiet.
Der 1. Weltkrieg berührte Litauen vom ersten Tag an. Die Schlachten zwischen den russischen und deutschen Armeen in Ostpreußen machten Litauen zum Frontgebiet. Aus Westlitauen zogen die ersten Kriegsflüchtlinge Richtung Osten. 1915 wurde das gesamte Territorium Litauens von der deutschen Reichswehr besetzt. Das Okkupationsregime war hart, das Land wurde wirtschaftlich in hohem Maße ausgebeutet. Dies verstärkte den Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit. Auf einem Kongress der unterdrückten Völker 1916 in Lausanne erklärten die litauischer Vertreter erstmalig, dass sie das Ziel eines unabhängigen Litauens verfolgen. Am 8. September 1917 fand in Vilnius eine Konferenz der Litauer statt, auf der in einer Resolution das Ziel der Eigenständigkeit festgelegt und ein Litauischer Rat gewählt wurde, dessen eigentliche Aufgabe eben die Verwirklichung des gestrebten Zieles war. Am 16. Februar 1918 verkündete der Litauische Rat die Unabhängigkeitserklärung. Damit begann auch der Weg Litauens als souveräner Staat.
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